Flug und Zeit
„COVID-19 follows Amber 575“
Ideen fallen nicht vom Himmel, haben aber manchmal mit ihm zu tun.
So die Idee, einen Film als Transportmittel für ein musikalisches
Solidaritätsprojekt einzusetzen: Für „COVID-19 follows Amber 575“
bildet Paul Depprichs „acceleration-deceleration721090202“ die
Basis, jener Film, der den Flug LH 721 einer Boeing 747-400 von Peking
nach Frankfurt/M. in voller Länge dokumentiert. PEK-FRA dauert bei
einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 998 km/h 10 Stunden und 15
Minuten. Dieselbe Dauer hat der Film. Ohne Schnitte oder andere
technische Manipulationen zeichnet er auf, was während des Flugs zu
sehen ist: ein Film, der nichts erzählt – und doch alles zugleich. Er
erzählt von der Routine der Luftfahrt zwischen den Welten und von der
Diskrepanz zwischen dem, was faktisch vorgefallen, und dem, was als
visuelles Resultat erkennbar ist. Er zeigt alles, was zu zeigen ist:
ein authentischer Reisebericht, dessen dialektische Narration nichts
verschweigt oder beschönigt, und der nichts zu wünschen übrig lässt –
außer vielleicht: den einzig richtigen Ton.
Daher produziert Paul
Depprich nun zusätzlich zur bisherigen akustischen Unterlegung dieser
Bildstrecke durch den Sprechfunk einen Soundtrack aus 40 Kompositionen
von 40 Musikern ein Solidaritätsprojekt mit denjenigen, die von der
plötzlichen Stagnation des Kulturbetriebs existenziell betroffen sind.
Denn dass nach den „Beschleunigungszumutungen der modernen
Gesellschaft“ (Hartmut Rosa) die Entschleunigung aller sozialen
Prozesse so stark sein kann, dass sie fast zum Stillstand führt, hätte
sich vor kurzem noch niemand vorstellen können. Die beschleunigte
Globalisierung selbst war es, die mittels eines unsichtbaren Virus ein
Stehenbleiben des Weltgetriebes bewirkte – ganz so, wie der Flug auf
dem Höhepunkt seiner Geschwindigkeit wie Stillstand wirkt. Und
„COVID-19 follows Amber 575“ soll hier wieder neue Impulse geben.
Manchmal vergeht die Zeit wie im Flugzeug. Die Spanne, die ein
Passagier in der Kabine verbringt, ist eine tote Zeit: eingeschoben
zwischen einem Nicht-mehr und einem Noch-nicht. Dieser
beschäftigungslose Zustand wird daher gewöhnlich durch allerlei
sinnstiftende Tätigkeiten überspielt: Essen, Lesen, Laptopspielereien –
oder Filmeschauen. Zum Beispiel den von Beijing nach Frankfurt. Denn
indem „COVID-19 follows Amber 575“ den Flug LH 721 akustisch
kommentiert, strukturiert und rhythmisiert er die in ihm aufgehoben
scheinende Zeit durch die zeitgebundene Progression der Tonfolgen.
Bunt ist das Netz der Luftstrassen, dessen Linien den Globus umspannt:
Denn die Leitlinien, an denen entlang sich die Schrumpfung der Erde zum
„globalen Dorf“ (Marshall McLuhan) entwickelte, die Meridiane also,
über die der Austausch von Gut wie Böse vonstattengeht, sind nach
Farben benannt. Und „Amber“ ist jener bernsteinfarbene Airway A 575
(„Amber 575“), der von Beijing aus nach Europa führt und auf dem sich
das Virus fortbewegte. Wie sich im Mittelalter die Pest entlang der
Handelswege ausgebreitet hat, tut es jetzt COVID-19 entlang der
Flugverbindungen über die Regenbogenbrücken. Doch ist Amber 575
zugleich jene Ost-West-Passage, auf der die Schutzausrüstung nach
Europa gelangt.
Und so grenzüberschreitend wie das Flugzeug, wie die Viren und wie die
internationale Solidarität ist die Begleitmusik dieser Reise um die
Welt in 40 Stücken. Auch sie hält sich nicht an nationale Grenzen oder
Traditionen, kompositorische Normen oder Hörgewohnheiten. Und nicht
zuletzt die Multinationalität der beteiligten Musiker vermeidet
jeglichen Nationalismus, der doch bei der aktuellen Lage weltweit auf
der Lauer liegt. Doch unterwirft auch sich die Musik den aktuell
geforderten Kontaktbeschränkungen. Alle Musiker liefern ihre in
Heimarbeit produzierten Audiodateien per Internet, die dann in den Film
eingefügt werden.
Den Start in PEK wurde einem Chinesen übertragen: Wu Wei an der Sheng,
in normalen Zeiten zuhause auf den grossen Bühnen der Welt, bringt den
365 Tonnen schweren Flieger in die Luft, der Kapitän der Maschine dann
zehn Stunden später den 255 Tonnen leichten Flieger mit der
Bassklarinette und dem „Dies Irae“-Motiv, der Totensequenz seit dem
Mittelalter, wieder sicher an den Boden. Der Film endet mit der
Europaflagge, als Statement zur Solidarität. So füllen die mitreisenden
Musiker die stillgelegte Zeit mit freien Improvisationen, deren anfang-
und endlose Abläufe vermeiden, dass durch die gewohnte Tonika am Ende
einer Komposition der Erwartungsfluss des Zuhörers gebremst und das
Verfliegen der Zeit unterbrochen wird.
Derart mit Musik begleitet, bietet das aviatorische Roadmovie eine
ungewohnte Aussicht. Das allen Fluggästen vertraute seitliche Vorbei
hat einem frontalen Gegenüber, einem unmittelbaren Geradeaus Platz
gemacht: einer Sichtweise, die nur wenigen vorbehalten ist.
Cockpit-Perspektive und instrumentale Tonspur werden in den Ablauf
eines performativen Geschehens eingebunden, das die Streckenführung um
den halben Globus nachvollzieht. Dabei verschmelzen die Improvisationen
der Musiker und die fließende Abbildung des durch technische
Bedingungen streng determinierten Fluges zu einer optisch-akustischen
Gesamtstruktur, bei der weder der Film die Musik illustriert, noch das
Bild die Musik kommentiert. Auf der Projektionsfläche spielt sich ab,
was sich auf der instrumentierten Ebene wiederholt: keine
durchkomponierten Melodien, sondern die sicht- und hörbar vergehende
Zeit, die in Bild und Ton unmerklich, aber unaufhaltsam einen Zielpunkt
ansteuert. Denn wo die Bilder fehlen, kann auch die Musik nichts
abbilden. Die musikalische Synchronisation verweigert also die
Interpretation des gefilmten Geschehens, sie liefert nicht die
Emotionen nach, die dem sachlichen Bildbericht abgehen. Die tönende
Flugbegleitung verkürzt nicht die Zeit, noch kann sie sie vertreiben;
sie macht sie allenfalls erträglicher, indem sie in die totale
Redundanz des visuellen Ablaufs Innovation in Form von Hörinformation
integriert.
Diese spezifische Verschränkung von Bild und Ton im Rahmen eines
anspruchsvollen Langzeit-Ereignisses bindet sich ein die Thematisierung
des Phänomens Zeit, wie sie mit augenscheinlich zeitloser Aktualität in
allen künstlerischen Medien sowie zugleich in Philosophie und
Soziologie verhandelt wird. Zeitbewusstsein und Zeiterfahrung – beide
in hohem Maße kultur- und gesellschaftsabhängig – nehmen in
unterschiedlichen ästhetischen Praxisbereichen der Gegenwart prägnanten
Raum ein. Im Gegensatz aber zu den zumeist symbolischen
Exemplifikationen von Zeitlichkeit wird diese in diesem Projekt real
erlebbar gemacht. Es argumentiert wesentlich mit dem Paradoxon, dem
zufolge der Flug dann als am langsamsten empfunden wird – bis hin zum
Gefühl des vollkommenen Stillstands –, wenn er real die höchste
Geschwindigkeit gewonnen hat. Hingegen wird er in denjenigen Phasen am
schnellsten erlebt, in denen er objektiv am langsamsten ist. Start und
Landung sind nämlich – wenngleich trügerisch – der Wahrnehmung
zugänglich, während bei Höchstgeschwindigkeit ein haltloses Hängen im
Nichts illusioniert wird, bis – mit abnehmender Beschleunigung – der
Realität durch das Fenster wieder Zutritt gewährt wird.
In dieser Vertauschung der Sinneseindrücke wird also der Widerspruch
zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektiven Tatbeständen zum Thema
einer Inszenierung von meditativem Charakter. Eingespannt in Dualismen
wie stationär-mobil, schnell-langsam, frei-determiniert,
beschleunigt-entschleunigt findet der „rasende Stillstand“, von dem in
Paul Virilios „Dromologie“ die Rede ist, seine Entsprechung in Paul
Depprichs Konzept. Eine terminologische Verschränkung ereignet sich,
wie sie bereits Ludwig Harig (unter Bezugnahme auf Nikolaus von Kues)
in einem experimentellen Text durchexerziert hat: „die unbewußte
Bewegtheit wird zur bewegten Unbewegtheit, bevor sich das unwandelbare
Gewandeltsein in eine unwandelbare Bewegtheit und die unbewegte
Bewegung in ein unbewegtes Gewandeltsein verwandelt, aus dem eine
wandelbare Unbewegtheit und eine bewegte Unwandelbarkeit hervorgehen“.
Das Projekt legt also jene Leitplanken nieder, an denen entlang sich
ein effektives Wirklichkeitsverständnis auszurichten gewöhnt hat; es
rüttelt an den Eckpfeilern individueller Realitätsbewältigung durch das
Spiel mit den absoluten Größen von Raum, Zeit und Bewegung, die ein
mechanistisches Universum zur Voraussetzung hat.
Die Entstehung des Films „acceleration-deceleration721090202“ – wie
dessen Transformation zu „COVID-19 follows Amber 575“ – verdankt sich
einer realen Dislozierung, während das Filmpublikum im selben Zeitraum
nicht von der Stelle kommt. Die von ihm physisch ausgestandene, zum
Erlebnis gewordene Zeit löst sich also von dem Raum, der sie überhaupt
erst konstituiert. Zwar entspricht dem absolvierten Zeitraum ein
geografischer Raum, eine konkrete Distanz, die jedoch physisch
undurchmessen bleibt: Das Performance-Publikum bleibt hinter der Zeit
zurück.
Das Konzept von „COVID-19 follows Amber 575“ umkreist somit auch den
Modus der Langeweile: jenen mentalen Zustand einer erwartungs- und
antriebslosen, weil handlungsbefreiten Leere in einer ziel- und
orientierungslosen Gegenwärtigkeit. Eingetaucht in die blickdichte
„Suppe der Zeitlosigkeit“ (John Banville), dehnt sich den Zuschauenden
die Zeit zur Monotonie eines Fortschritts, an dem sie nicht teilhaben.
Im Verlauf dieses „richtungslosen Wartens“ (Hermann Broch) wird die
Performance zur Zumutung: Das Publikum muss sich die vorgeschriebene
Zeit nehmen. Keine Abkürzung ist zugelassen. Das Konzept kennt somit
nur die totale Einlassung oder das Scheitern an seinem Anspruch.
Mit seinem monumentalen Zeitrahmen stellt also das Projekt die
herrschenden Produktions- und Rezeptionsumstände in Frage. Die aktuelle
Argumentationsstruktur der Bewegtbilder, allen voran des Fernsehens,
glaubt, um dem Zapping zuvorzukommen, dieses an sich selbst vollziehen
zu müssen. Querliegend zu den visuellen Medien, die durch schnelle
Schnitte und eine hektische Effektdramaturgie die Aufmerksamkeit zu
binden und gleichzeitig zu zerstreuen suchen, bietet der Film mit
seinem Entschleunigungsprogramm auch eine rezeptionshygienische
Veranstaltung. In dem Maße, wie „COVID-19 follows Amber 575“ die
geltenden Hör- und Sehgewohnheiten außer Kraft setzt, stellt er auch
die individuelle Aufnahmebereitschaft und -möglichkeit zur Disposition.
Nach der aktuellen Kontaktbeschränkung kann die Installation jederzeit
live aufgeführt werden, falls es irgendwo im Kulturetat noch
unverbrauchte Reste gibt.
Dr. Harald Kimpel, Kassel